zum Inhalt springen

Heimweh nach der Ferne

Ein Gespräch mit der Jodlerin Sonja Lieberherr über die Sehnsucht nach der Ferne, die Liebe zu Brauchtum und Tradition, ihre Wurzeln im Toggenburg, die Verbindung zur Natur und ihr Engagement in der Klangwelt.

Interview: Bettina Mittelstraß

Bettina
Sonja, als Jodlerin bist Du hier im Toggenburg sehr gut vernetzt und vielen Menschen gut bekannt. Zuletzt konnte man Dich im September beim Klangrundgang ‹Festimfall› der Klangwelt Toggenburg in der ehemaligen Klosteranlage Johanneum in Neu St. Johann erleben. Aber auch sonst gibst Du in der Klangwelt Kurse im Jodeln, vermittelst den Betruf, den traditionellen Schutzgesang für Vieh und Alp, oder nimmst Menschen auf viele Weise mit in die Natur der Berge. Wie bist Du mit der Klangwelt Toggenburg in Kontakt gekommen?

Sonja
Ein kleines roten Auto hat den Anfang gemacht. Das kam immer vor das Verkehrsbüro in Unterwasser gefahren, wo ich eine Lehre im Tourismusbereich gemacht habe. Ausgestiegen ist Peter Roth mit einer Menge bunter Zettel, mit denen er Werbung für seine ersten Klangkurse im ehemaligen Naturfreundehaus Seegüetli in Wildhaus gemacht hat. Heute gilt er als der Gründer der Klangwelt Toggenburg und an der Stelle des Seegüertli entsteht das Klanghaus. Mit den Zetteln haben wir die ersten Kurse damals noch ganz analog beworben. Man kann also sagen, ich bin mit 16 Jahren in die Anfänge der Klangwelt Toggenburg hineingewachsen.

Bettina
Hast Du damals auch schon gejodelt?

Sonja
Ja. Ich wurde mit jugendlichen 16 Jahren von einem Jodlerklub angefragt mitzusingen – eine ziemliche Männerdomäne damals. Aber ich war sehr willkommen in diesen Kreisen. Das lag einfach daran, dass im Toggenburg traditionell die Männer z’Alp gingen, und die Hirten oder Sennen waren diejenigen, die jodelten. Weil ich aber als Kind mit auf die Alp durfte, war es für mich ganz selbstverständlich, dass ich auch jodle. Alphirtin ist meine Leidenschaft und durfte ich dann auch ein paar Sommer sein. Dort habe ich auch allabendlich den Alpsegen gerufen, den Betruf.

Bettina
Kannst Du mir die Tradition des Betrufs erklären?

Sonja
Schaut man genau hin, dann ist der Alpsegen ein alter heidnischer Brauch. Dieser Trichter, durch den man ruft, ist eigentlich ein Milchtrichter. Er wurde mit Tannenzweigen gefüllt. Dann hat man die frische Milch hindurchgegossen, damit eventuelles Stroh aus der Hütte in den Zweigen hängen bleibt – ein Filterprinzip. Nach der Arbeit ging der Älpler oder Hirte oder Senn dann mit dem Trichter raus ans Kreuz und hat den Alpsegen hindurch gerufen, damit der Ruf möglichst weit klingt. Die Idee dahinter ist, dass alles, was sich in diesem Klangraum befindet, für die Nacht geschützt ist. Denn wenn ich mich als Mensch in der Verantwortung für das Vieh befinde und in dieser rauen Bergwelt ausruhe, muss ich alles Leben etwas Höherem überantworten. Durch den Alpsegen wird einem also auch bewusst, wie klein und zugleich integriert ich als Mensch bin.

Bettina
Welche Erfahrungen hast Du ausserdem auf der Alp gemacht?

Sonja
Man ist viel allein in diesem Naturraum. Also hat man die Sinne offener und ist weniger abgelenkt von all den Reizen, denen man in der Zivilisation sonst ausgesetzt ist. Dann spüre ich eine starke Verbundenheit mit allem, was mich umgibt. Besonders stark ist das Gefühl, wenn ich den Alpsegen rufe. Es gibt keine Trennung mehr zwischen mir hier, dem Tier da und der Tanne dort. Für den Moment des Rufens – also in diesem widerhallenden Klang – wird alles eins, auch das Gewesene und das Werdende. Es ist ein ehrfürchtiger Moment, über den ich immer wieder staune. Allein in den Bergen oder auf der Alp begegnet einem also nicht nur die sichtbare Natur, sondern auch etwas Transzendentes. Das schätze ich auch so an den Menschen hier im Toggenburg: Es gibt einige, die die Sinne offen und, ich sage es mal so, ein altes Wissen haben.

Was ist hinter der nächsten Kuppe?

Bettina
Das klingt nach einer tiefen Verwurzelung in der Alpweltkultur des Toggenburg – bist Du also immer hier geblieben?

Sonja
Ich möchte mit einer Gegenfrage antworten: Wofür hat eine Wettertanne denn tiefe und feste Wurzeln? Damit sie sich biegen und rauslehnen und währenddessen trotzdem fest im Wind stehen kann, oder? So sehe ich das für mich: Wenn ich gut verwurzelt bin, kann ich mir den Wind um die Nase wehen und meiner Neugier freien Lauf lassen. Wenn ich einen für mich neuen Berggipfel besteige, dann passiert es oft, dass auch den nächsten und übernächsten Gipfel besteigen muss – nur um zu sehen und erfahren, was hinter der nächsten Kuppe ist. Ich habe so grosses Interesse an anderen Traditionen, Religionen und Kulturen, dass ich in jungen Jahren mit Wanderschuhen und Rucksack an vielen Orten unterwegs war – ein halbes Jahr in Israel und jeweils mehrere Monate in Brasilien, Australien, Kalifornien und Griechenland. Es ist mein Heimweh nach der Ferne. Weil ich allein unterwegs war, bin ich viel privat eingeladen worden und hab die persönlichsten Stimmungen der Menschen erfahren, ihre Ängste, Freuden und ihr Suchen oder ihre Sehnsüchte. Ich war auf Hochzeiten und Festen und hab ihr Brauchtum kennengelernt – also ihre kulturellen Wurzeln.

Bettina
Was möchtest Du heute in der Klangwelt gerne vermitteln?

Sonja
Wer sich seiner eigenen Traditionen und seiner Wurzeln, also seiner Stabilität bewusst ist, muss sich meiner Ansicht nach vor dem Austausch mit anderen überhaupt nicht fürchten. Im Gegenteil. Ich persönlich bin mit dem Klang von Sennschellen und mit dem Jodel aufgewachsen. Heute bin ich dankbar, dass ich mich darüber austauschen und anderen Menschen den Zugang zu diesem Klang und der Naturerfahrung hier geben darf. Im Naturjodel, also in den Naturtönen, steckt für mich eine sehr grundsätzliche und umfassende Erfahrung von Natur – eine nicht mehr von der Natur abgespaltene Erfahrung, möchte ich sagen. Die fehlt vielen Menschen mehr denn je. Vor allem bei Kindern und Jugendlichen erlebe ich heute diese Abspaltung. Wenn ich nur schon sage ‚Wir gehen raus in die Natur‘, ist darin die Annahme einer Spaltung enthalten: Ich hier, die Natur da. Wenn man das weiterdenkt: Wie soll ich etwas schützen, was ich gar nicht mehr als zu mir gehörig erleben kann? Diese Spaltung möchte ich als Systemische Erlebnispädagogin, die ich inzwischen auch bin, mit Menschen überwinden. Das kann ich über Gesang, Naturjodelkurse und als Klangbegleiterin in der Klangwelt einbringen.

Bettina
Wenn Du in die Zukunft schaust, was erhoffst Du Dir von der Klangwelt?

Sonja
Da möchte ich kurz den Blick nochmal zurückwenden: Als damals die Klangkurse noch mit Zetteln beworben wurden, hatten wir plötzlich in einem Jahr an Weihnachten keinen Schnee auf den Bergen. Die Hotels, Ferienwohnungen und -häuser waren voll belegt und Skifahren war nicht möglich. Im Eiltempo musste für die Festtage ein Ersatz- und Alternativprogramm für die Gäste zusammengestellt werden. Aber zusammen waren wir stark und Viele halfen mit. Wir haben Besuche bei Bauern im Stall organisiert, man konnte beim Melken helfen, erhielt Einblick in die Backstuben, und natürlich hat auch Peter Roth diverse zusätzliche Kurse angeboten. Die Klangwelt war in ihren Anfängen also schon eine visionäre Idee. In den heutigen Zeiten vielfältigen Wandels brauchen wir das Visionäre mehr denn je. Im Tal erlebe ich inzwischen, dass das Bekenntnis zur Klangwelt wächst und gedeiht, und das ist wunderbar. Persönlich erhoffe ich mir durch die Klangwelt Aufbruch im und für das Tal. Darauf vertraue ich und gehe als hier sehr verwurzelte Toggenburgerin gerne mit voran.

Fotos: ©Ursula Schlegel